Wolfgang Borchert

Lebens- und Werkchronik


1921

20. Mai -- Wolfgang Borchert in Hamburg geboren. --Vater: Fritz Borchert, Lehrer an einer Volksschule in Hamburg-Eppendorf; Mutter: Hertha Borchert, geborene Salchow, erfolgreiche Autorin mundartlicher Heimatliteratur (u.a. der Prosasammlung, "Sünroos")

1928

Volksschule

1932

Oberrealschule in Hamburg-Eppendorf

1938

Dezember: Abschluß des Schulbesuchs mit einem Zeugnis dürftiger Leistungen

Veröffentlichung erster -- durchweg dilettantischer -- Gedichte im "Hamburger Anzeiger"

"Ich gebe zu, daß ich Gedichte oder Prosa nie während des Schreibens erarbeite oder erkämpfe. Der Einfall kommt, wird hingeschrieben und nicht mehr verändert. Ich brauche zu einem Gedicht kaum mehr Zeit, als nötig ist, die gleiche Menge Worte aus einem Buch abzuschreiben. Hinterher feilen oder verändern kann ich nicht -- lieber schreibe ich es in drei Jahren noch einmal. Du fühlst sicher diese gewisse Oberflächlichkeit in meiner Arbeit, die keine Arbeit ist -- höchstens ein kurzer Rausch."

"Ich bin ein Reiter,
stürmend durch die Zeit!
Durch die Wolken führt mein Ritt --
Mein Pferd greif aus!
Voran! Voran!
Der Sturm jagt neben mir!
Voran! Mein Pferd! Voran!
Durch die Gefahren hin stürmen wir
-- ich und du --
mein Pferd!
Voran!
Durch die Zeit!
Ich bin ein Reiter!"

1939

1. April -- Anstellung als Lehrling in der Hamburger Buchhandlung Heinrich Boysen

Privater Schauspielunterreicht bei Helmuth Gmelin

1940

Schauspielprüfung

31. Dezember -- Abbruch der lustlos betriebenen Buchhändlerlehre

1941

3. März bis 6. Juni -- Schauspieler an der "Landesbühne Osthannover" in Lüneburg, einer Wanderbühne, die arglose Lustspiele (wie "Die vier Gesellen", "Swienskomödie 'Krach um Jolanthe'" und "Krach im Hinterhaus") aufführt

Juli bis November -- Ausbildung zum Panzergrenadier bei der 3. Panzer-Nachrichten-Ersatz-Abteilumg 81 in Weimar-Lützendorf

"(. . . ) nach einer kurzen, wunderbaren Theaterzeit bin ich nun auch Soldat geworden. Es ist laut in Europa, aber nicht von Schillers Pathos, sondern vom Lärm der Massen (. . . ). Im Augenblick tötet die brutal aufgezwungene Welt des Zwanges und der Uniform-Einform alles Schöne, alle Kunst in mir -- und ich muß oft an mich halten, nicht in einer plötzlichen Aufwallung der Reaktion gegen diesen Zwang eine Dummheit zu begehen. (. . . ) Es ist kaum zu ertragen -- aber: es muß ja ertragen werden."

November -- Borchert als Panzergrenadier im Fronteinsatz im Raum Klin-Kanilin. Augenzeuge schwerer, verlustreicher Schlachten, in denen die deutschen Truppen -- entgegen den heroischen-völkischen Siegesparolen der nationalsozialistischen Propaganda -- ihre Unterlegenheit gegenüber den sowjetischen Truppen erfahren.

"Die Freiheit ist tot. Alle Freiheit. Wohl haben wir unser inneres Reich -- aber woran sollen wir noch glauben? (. . . ) Da sitzen wir in Neros Mantel und singen -- während alles versinkt und untergeht."

"Meine Kameraden, die vor vierzehn Tagen herausgekommen sind, sind alle gefallen. Für nichts und wieder nichts."

"Ich empfinde die Kasernen als Zwingburgen des Dritten Reiches."

"Ich fühle mich selbst als wesenlosen Kuli der braunen Soldateska."

1942

Januar -- Verwundung auf einem Patrouillengang nötigt Borchert zu einem Lazarettaufenthalt; eine zusätzliche Diphtherie-Erkrankung macht seine Überführung in das Heimatlazarett Schwabach erforderlich.

Mai -- Unter dem Verdacht, sich durch die Schußverletzung an der linken Hand "willentlich dienstuntauglich gemacht zu haben", wird Borchert verhaftet und angeklagt. Nach dreimonatiger Einzelhaft im Untersuchungsgefängnis Nürnberg Gerichtsverhandlung, in der der militärische Anklagevertreter für Borchert die Todesstrafe (Tod durch Erschießen) beantragt. Das Gericht beendet seine Verhandlung -- 31. Juli/1. August 1942 -- mit einem Freispruch Borcherts.

Fortdauer der Untersuchungshaft, da gegen Borchert Anklage wegen "staatsgefährdender" Briefe erhoben wird. Unter Berufung auf das "Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei" wird er zu einer Gefängnisstrafe von vier Monaten verurteilt. Auf Antrag Borcherts und seines Verteidigers wird die Strafe in eine sechswöchige "verschärfte" Haft mit anschließender "Frontbewährung" umgewandelt.

Oktober/November -- Nach der Haftverbüssung Rückkehr Borcherts zum Erssatzbatallion seines Regiments in Saalfeld, danach bei der Garnison in Jena.

"Als wir in den Güterzug kletterten, sie stanken nach Vieh, die Waggons, die blutroten, da wurden unsere Väter laut und lustig mit ihren Blei-Gesichtern und sie haben verzweifelt ihre Hüte geschwenkt. Unsere Mütter verwischten mit buntfarbigen Tüchern ihre maßlose Trauer: (. . . ) Wir aber sangen so wunderschön in Gottes weite Welt hinaus und grinsten und grölten, daß unsern Mütter die Herzen erfroren. (. . . ) Wir sangen den trostlosen Männergesang von Madagaskar und die blutroten Waggons stanken nach Vieh, denn sie hatten Menschen an Bord."

Dezember -- Als Melder im Fronteinsatz bei den harten Panzerkämpfen um Toropez. Mit Fußerfrierungen Einlieferung ins Lazarett; erneuter Ausbruch von Gelbsucht, Fleckfieber.

"Rings war Vernichtung und Tod -- sinnlos sank das Leben in das Nichts, zu keiner Auferstehung. Wo ist der Sinn der Welt -- fragte ich in das All. Ist kein Sinn? Verzweifelt und ohnmächtig wanderte ich von Zeit zu Zeit, aber immer war es Krieg. Voll Grauen und Größe brach diese Vision des Untergangs auf mich hernieder -- wo ist der Gott? fragten die sterbenden Augen. Wo ist das Leben -- fragten die welkenden Münder -- wo ist der Sinn und die Liebe -- fragten die verirrten, verwirrten Seelen! Das Nicht-wissen um die Dinge ist die Antwort auf alles."

1943

Januar/Februar -- Aufenthalt in dem berüchtigten Seuchenlazarett Smolensk; im März Verlegung Borcherts in das Reservelazarett Elend (Harz).

August -- Urlaub Borcherts in seiner -- kurz vorher durch Bombenangriffe zur Hälfte vernichteten -- Heimatstadt Hamburg.

Borchert tritt im Hamburger Lokal "Bronzekeller" als Kabarettist auf und präsentiert Songs und Brettlverse (u.a. "Der Tausendfüßler", "Die Zigarettenspitze", "Brief aus Rußland").

"Laut sang er und lustig sang er. Vielleicht sang er, weil er nicht fluchen wollte (. . . ). Vielleicht sang er, weil er nicht an die Toten denken wollte. (. . . ) Oder weil es so dunkel war. Doch, vielleicht war es so, daß er laut sang, weil es dunkel war. (. . . ) Tote Stadt gesehen! Zehntausend Tote gerochen! Und Krümel, Krümel, Krümel gesehen. Menschenkrümel, Steinkrümel, Stadtkrümel, Weltkrümel. (. . . ) Und er sang."

Oktober -- Nach einer Rückkehr zur Kompanie erwartet Borchert wegen seiner erneuten Lebererkrankung in Kassel-Wilhelmshöhe seine Entlassung aus dem Kriegsdienst und seine Freistellung für ein Fronttheater. Statt dessen im Dezember Inhaftierung wegen einer Parodie auf "den Reichsminister Dr. Goebbels".

1944

Januar -- Nachdem der Versuch gescheitert ist, die Bedeutung von Borcherts Straftat, d.h. der Verunglimpfung des Reichspropagandaministers, durch gute Leumundszeugnisse zu bagatellisieren, wird der "Vorbestrafte" von Jena in das Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit überführt.

September -- Das "Zentralgericht des Heeres" in Berlin verurteilt Borchert "wegen Zersetzung der Wehrkraft" zu einer Gefängnishaft von neun Monaten. Entlassung aus dem Gefängnis "zur Feindbewährung" an der Front.

"Wir marschieren. Wir marschieren bei Tag und wir marschieren bei Nacht. Wir schlafen bei Tag, wir schlafen bei Nacht. Sie schießen bei Tag, sie schießen bei Nacht. Sie schießen -- sage ich, denn das eigene Schießen hören wir nicht mehr, nur das Schießen der anderen. Die Stunden versinken wie Segelschiffe am blutigen Horizont des Himmelsmeeres. Die Sonne stirbt, und mit ihr stirbt der Tag."

1945

Frühjahr -- Nachdem die Offiziere desertiert sind, kann Borcherts Truppe in der Nähe von Frankfurt/Main vor der französischen Streitmacht kapitulieren. Während des Abtransports in die französische Kriegsgefangenschaft gelingt Borchert die Flucht in Richtung Heimat.

10. Mai -- Nach einem teilweise lebensbedrohlichen Fußmarsch von 600 Kilometern erreicht Borchert, völlig entkräftet und von seiner schweren Krankheit gezeichnet, Hamburg, wo ihn seine Eltern erwarten und ihm ein neues Zuhause geben.

"Helm ab Helm ab: -- Wir haben verloren!

Die Kompanien sind auseinandergelaufen. Die Kompanien, Bataillone, Armeen. Die großen Armeen. (. . . )

Wir werden nie wieder antreten auf einen Pfiff hin und Jawohl sagen auf ein Gebrüll. (. . . ) Wir werden weinen, schießen und singen, wann wir wollen. Aber das Lied von den brausenden Panzern und das Lied von dem Edelweiß werden wir niemals mehr singen. Dann die Panzer (. . . ) brausen nicht mehr und das Edelweiß, das ist verrottet unter dem blutigen Singsang. Und kein General sagt mehr Du zu uns vor der Schlacht. Vor der furchtbaren Schlacht.

(. . . ) wir werden nie wieder zusammen marschieren, denn jeder marschiert von nun an allein."

September -- Borcherts Versuchen, im Hamburger Kabarett "Janmaaten im Hafen" aufzutreten, wird durch seinen sich rapide verschlechternden Gesundheitszustand alsbald ein Ende gereitet.

"Allzu alt werde ich bei meiner Gesundheit kaum werden. (. . . ) Ja, wenn ich wüßte, daß ich meine Arbeit bis zum 30. Lebensjahr beendet haben müßte, oder ich würde sie nicht erreichen, so würde ich auch das auf mich nehmen. Lieber ganz gestorben und gelebt -- als alt geworden und die Welt immer nur tropfenweise genossen."

November -- Mitbegründer des Hinterhoftheaters "Die Komödie" in Hamburg-Altona.

1946

Frühjahr --Seit Monaten wegen seines schweren Leberleidens bettlägrig, wird Borchert in das Hamburger Elisabeth-Krankenhaus eingeliefert. Nach ärztlichem Ermessen bleibt ihm eine Lebensfrist von höchstens einem Jahr.

"Weiße Decken, weiße Hände,
weiße Hauben über welken Schwestern --
und ich spiel mit weißen Händen
faul mit Heute, Morgen, Gestern."

"Ich glaube, ich überwinde diesen Dämon Krankheit jetzt endlich (. . . ). Allerdings bin ich so restlos von den Füßen, daß es mit der Arbeit in diesem Sommer noch nicht weit her sein wird -- ich werde eben bummeln und mich erholen -- (. . . ) Entweder gehe ich ein, oder ich werde wieder. Da ich aber noch sooooviel vorhabe, kann ich ja gar nicht eingehen -- also: werde ich wieder."

In rascher Folge schreibt Borchert in diesem Jahr 24 Prosatexte, u.a. "Die Hundeblume".

Veröffentlichung der Gedichtssammlung "Laterne, Nacht und Sterne" (Gedichte aus der Zeit von 1940 bis 1945).

"(. . . ) wer denn, auch, wer weiß einen Reim auf das Röcheln einer zerschossenen Lunge, einen Reim auf einen Hinrichtungsschrei, wer kennt das Versmaß, das rhythmische, für eine Vergewaltigung, wer weiß ein Versmaß für das Gebell der Maschinengewehre, eine Vokabel für den frisch verstummten Schrei eines toten Pferdeauges, in dem sich kein Himmel mehr spiegelt und nicht mal die brennenden Dörfer, welche Druckerei hat ein Zeichen für das Rostrot der Güterwagen, dieses Weltbrandrot, dieses ausgetrocknete blutverkrustete Rot auf weißer menschlicher Haut? Geht nach Hause, Dichter, geht in die Wälder, fangt Fische, schlagt Holz und tut eine heroische Tat: Verschweigt!"

1947

Januar -- Das Schauspiel "Draußen vor der Tür" wird innerhalb weniger Tage niedergeschrieben. Am 13. Februar wird es erstmals als Hörspiel gesendet; es löst eine unerwartet weitreichende Resonanz aus und erweist sich als ein sensationeller Publikumserfolg.

April -- Veröffentlichung des Prosabandes "Die Hundeblume".

Bis zum September werden weitere 22 Erzählungen geschrieben; Borchert schreibt, obwohl sich seine Krankheit mehr und mehr ausprägt.

"Ich will keine Zeile mehr schreiben können, wenn ich nur mal über die Straße gehen dürfte, mal wieder Straßenbahn fahren -- und an die Elbe gehen."

September -- Nach langwierigen bürokratischen Verhandlungen gelingt es den Freunden Borcherts, den längst Bettlägrigen, unter Fieberschüben Leidenden für eine spezifische medikamentöse Behandlung in die Schweiz zu bringen. Stationäre Behandlung im katholischen Clara-Spital in Basel.

Eine gesundheitliche Besserung tritt nicht ein, vielmehr kommt es zu einer rapiden Verschlechterung des Befindens. Borchert, den weder seine Eltern noch seine Freunde aus Deutschland begleiten oder besuchen dürfen, leidet zusätzlich unter der sozialen Isolation des Krankenhauses, in dem man in ihm einen Angehörigen des untergegangenen Nazi-Deutschlands sieht.

"Wir begegnen uns in einem Keller der Stadt und sind Hungernde, Müde, und bekommen für nichts einen guten satten Schlaf -- und dann stehlen wir uns davon.

Wir begegnen uns auf der Welt und sind Mensch mit Mensch -- und dann stehlen wir uns davon, denn wir sind ohne Bindung, ohne Bleiben und ohne Abschied. Wir sind eine Generation ohne Abschied, die sich davonstiehlt wie Diebe, weil sie Angst hat vor dem Schrei ihres Herzens. Wir sind eine Generation ohne Heimkehr, denn wir haben nichts, zu dem wir heimkehren könnten, und wir haben keinen, bei dem unser Herz aufgehoben wäre -- so sind wir eine Generation ohne Abschied geworden und ohne Heimkehr."

Oktober -- Niederschaft des Antikriegsmanifests "Dann gibt es nur eins!"

20. November -- Borchert stirbt im Clara-Spital zu Basel.

21. November -- Uraufführung des Dramas "Draußen vor der Tür

in den Hamburger Kammerspielen.

Veröffentlichung der Prosasammlung "An diesem Dienstag".

24. November -- Trauerfeier für Borchert auf dem "Hörnli-Gottesacker" in Basel.

1948

Beisetzung der Urne auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg.

"Alle Ankunft gehört uns, (. . . ) sie gehört dieser enttäuschten, verratenen Generation -- gleich, ob es sich um Amerikaner, Franzosen oder Deutsche handelt. (. . . ) die Generation unserer Väter (hat) uns zwar blind in diesen Krieg gehen lassen, aber nun wissen wir Sehend-gewordenen, daß nur noch eine Ankunft zu neuen Ufern uns retten kann, mutiger gesagt: Diese Hoffnung gehört uns ganz allein! Verstehen Sie die Opposition und den Zweifel an der Väter- und Studienratsgeneration? (. . . ) Die Indolenten (. . . ) ließen es zu, daß wir, ihre Söhne, in die Hölle hineinstolzierten, und keiner von ihnen sagte uns: Ihr geht in die Hölle! Es hieß: Mach's gut! und: für's Vaterland! (Für Deutschland, für Frankreich, für Amerika!)"

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