5. SZENE

(Ein Haus. Eine Tür. Beckmann.)

BECKMANN: Wo ist denn unser Messingschild?  Die andern Namen im Haus sind doch auch noch alle an ihren Türen.  Wie immer.  Warum steht hier denn nicht mehr Beckmann?  Da kann man doch nicht einfach einen anderen Namen annageln, wenn da dreißig Jahre lang Beckmann angestanden hat.  Wer ist denn dieser Kramer!?

(Es klingelt.  Die Tür geht auf.)

FRAU KRAMER: (mit einer gleichgültigen, grauenhaften, glatten Freundlichkeit, die furchtbarer ist als alle Rohneit und Brutalität) Was wollen Sie.

BECKMANN: Ja, guten Tag, ich --

FRAU KRAMER: Was?

BECKMANN: Wissen Sie, wo unser Messingschild geblieben ist?

FRAU KRAMER: Was für ein "unser Schild"?

BECKMANN: Das Schild, das hier immer an war.  Dreißig Jahre lang.

FRAU KRAMER: Weiß ich nicht.

BECKMANN: Wissen Sie denn nicht, wo meine Eltern sind?

FRAU KRAMER: Wer sind Sie denn?

BECKMANN: Ich heiße Beckmann.  Ich bin hier doch geboren.  Das ist doch unsere Wohnung.

FRAU KRAMER: (immer mehr schwatzhaft und schnoddrig als absichtlich gemein) Nein das stimmt nicht.  Das ist unsere Wohnung.  Geboren können Sie hier ja meinetwegen sein, das ist mir egal, aber Ihre Wohnung ist das nicht.  Die gehört uns.

BECKMANN: Ja, ja.  Aber wo sind denn meine Eltern geblieben?  Die müssen doch irgendwo wohnen!

FRAU KRAMER: Sie sind der Sohn von diesen Leuten, von diesen Beckmanns, sagen Sie?  Sie heißen Beckmann?

BECKMANN: Ja, natürlich, ich bin Beckmann.  Ich bin doch hier in dieser Wohnung geboren.

FRAU KRAMER: Das können Sie ja auch.  Das ist mir ganz egal.  Aber die Wohnung gehört uns.

BECKMANN: Aber meine Eltern!  Wo sind meine Eltern denn abgeblieben?  Können Sie mir denn nicht sagen, wo sie sind?

FRAU KRAMER: Das wissen Sie nicht?  Und Sie wollen der Sohn sein, sagen Sie?

BECKMANN: Ich war drei Jahre in Sibirien, über tausend Tage!  Wo sind sie dennn hin, die alten Leute?  Sie haben hier dreißig Jahre gewohnt, und nun sollen sie mit einmal nicht mehr da sein?  Reden Sie doch was!  Sie müssen doch irgendwo sein!

FRAU KRAMER: Doch.  Soviel ich weiß:  Kapelle 5.

BECKMANN: Kapelle 5?  Was für eine Kapelle 5 denn?

FRAU KRAMER: (resigniert, eher wehleidig als brutal) Kapelle 5 in Ohlsdorf.  Wissen Sie, was Ohlsdorf ist?  Ne Gräberkolonie. Wissen Sie, wo Ohlsdorf liegt?  Bei Fuhlsbüttel.  Da oben sind die drei Endstationen von Hamburg.  In Fuhlsbüttel das Gefängnis, in Alsterdorf die Irrenanstalt.  Und in Ohlsdorf der Friedhof.

BECKMANN: Warum sind sie denn gestorben?  Sie hatten doch gar keinen Grund.  Sie können doch nicht so einfach stillschweigend wegsterben!

FRAU KRAMER: (vertraulich, schlampig, auf rauhe Art sentimental) Na, Sie sind vielleicht 'ne Marke, Sie komischer Sohn.  Gut, Schwamm drüber.  Tausend Tage Sibirien ist auch kein Spaß.  Versteh schon, wenn man dabei durchdreht und in die Knie geht.  Die alten Beckmanns konnten nicht mehr, wissen Sie.  Hatten sich ein bißchen verausgabt im Dritten Reich, das wissen Sie doch. Was braucht so ein alter Mann noch Uniform zu tragen.  Und dann war er ein bißchen doll auf die Juden, das wissen Sie doch, Sie, Sohn, Sie.  Die Juden konnt Ihr Alter nicht verknusen.  Die regten seine Galle an.  Er wollte sie alle eigenhändig nach Palästina jagen, hat er immer gedonnert.  Warum konnte er auch seinen Mund nicht halten.  War eben zu aktiv, der alte Beckmann.  Und als es nun vorbei war mit den braunen Jungs, da haben sie ihm mal ein bißchen auf den Zahn gefühlt.  Na, und der Zahn war faul, das muß man wohl sagen, der war ganz oberfaul.  -- Sagen Sie mal, ich freue micht schon die ganze Zeit über das Brückengeländer, was Sie da als Brille auf die Nase gebastelt haben.

BECKMANN: (unterbricht) Weiter.  Was ist mit meinem Vater.  Erzählen Sie doch weiter!

FRAU KRAMER: Da ist nichts mehr zu erzählen.  An die Luft gesetzt haben sie Ihren Papa, ohne Pension, versteht sich.  Und dann sollten sie noch aus der Wohnung raus.  Nur den Kochtopf durften sie behalten.  Das war natürlich trübe.  Und das hat den beiden Alten den Rest gegeben.  Da konnten sie wohl nicht mehr.  Und sie mochten auch nicht mehr.  Ja, da haben sie sich dann selbst endgültig entnazifiziert.  Das war nun wieder konsequent von Ihrem Alten, das muß man ihm lassen.

BECKMANN: Was haben Sie?  Sich selbst --

FRAU KRAMER: (mehr gutmutig als gemein) Entnazifiziert.  Das sagen wir so, wissen Sie.  Das ist so ein Privatausdruck von uns.  Ja, die alten Herrschaften von Ihnen hatten nicht mehr die rechte Lust.  Einen Morgen lagen sie steif und blau in der Küche.  So was Dummes, sagt mein Alter, von dem Gas hätten wir einen ganzen Monat kochen können.

BECKMANN: (leise) Ich halte es nicht aus!  Ich halte es nicht aus!  Ich halte es nicht aus!

DER ANDERE: Doch, Beckmann, doch!  Man hält das aus.

BECKMANN: Nein!  Ich will das nicht mehr aushalten!  Geh weg! Du blödsinniger Jasager!  Geh weg!

DER ANDERE: Nein, Beckmann.  Deine Straße ist hier oben.  Komm, bleib oben, Beckmann, deine Straße ist noch lang.  Komm!  Werd nicht müde, Beckmann.  Komm.  Lebe!

BECKMANN: Dieses Leben?  Nein, dieses Leben ist weniger als Nichts.  Ich mach nicht mehr mit, du.  Was sagst du?  Vorwärts, Kameraden, das Stück wird selbstverständlich brav bis zu Ende gespielt.  Wer weiß, in welcher finsteren Ecke wir liegen oder an welcher süßen Brust, wenn der Vorhang endlich, endlich fällt.  Fünf graue verregnete Akte!

DER ANDERE: Mach mit.  Das Leben ist lebendig.  Beckmann.  Sei mit lebendig!

BECKMANN: Sei still.  Das Leben ist so:
1. Akt:  Grauer Himmel.  Es wird einem weh getan.
2. Akt:  Grauer Himmel.  Man tut wieder weh.
3. Akt:  Es wird dunkel und es regnet.
4. Akt:  Es ist noch dunkel.  Man sieht die Tür.
5. Akt:  Es ist Nacht, tiefe Nacht, und die Tür ist zu.

Man steht draußen.  Draußen vor der Tür.  An der Elbe steht man, an der Seine, an der Wolga, am Mississippi.  Man steht da, spinnt, friert, hungert und ist verdammt müde.  Und dann auf einmal plumpst es, und die Wellen machen niedlich kleine kreisrunde Kreise, und dann rauscht der Vorhang.

DER ANDERE: Beckmann!  Beckmann!

BECKMANN: (ganz nah) Hm -- (Er schläft ein.)

DER ANDERE: Beckmann, du schläfst ja!

BECKMANN: (im Schlaf) Ja, ich schlafe,

DER ANDERE: Wach auf, Beckmann, du mußt leben!

BECKMANN: Nein, ich denke gar nicht daran, aufzuwachen.  Ich träume gerade.  Ich träume einen wunderschönen Traum.

DER ANDERE: Träum nicht weiter, Beckmann, du mußt leben.

BECKMANN: Leben?  Ach wo, ich träume doch gerade, daß ich sterbe.

DER ANDERE: Steh auf, sag ich!  Lebe!

BECKMANN: Nein.  Aufstehen mag ich nicht mehr.  Ich träume doch gerade so schön.  Ich liege auf der Straße und sterbe.  Vielleicht ist er ganz nett, der Tod.  Vielleicht viel netter als das Leben.  Vielleicht -- Ich glaube sogar, ich bin schon im Himmel.  Ich fühl mich gar nicht mehr -- und das ist, wie im Himmel sein, sich nicht mehr fühlen.  Und da kommt auch ein alter Mann, der sieht aus wie der liebe Gott.  Ja, beinahe wie der liebe Gott.  Wer hat ihn eigenlich so genannt: "lieber Gott"?  Die Menschen?  Ja?  Seltsam, ja, das müssen ganz seltsame Menschen sein, die ihn so nennen.  Das sind wohl die Zufriedenen, die Satten, die Glücklichen und die, die Angst vor ihm haben.  Die im Sonnenschein gehen, verliebt oder satt oder zufrieden -- oder die es nachts mit der Angst kriegen, die sagen:  Lieber Gott!  Lieber Gott!  Aber ich sage nicht Lieber Gott, ich kenne keinen, der ein lieber Gott ist!

Wann bist du eigentlich lieb, lieber Gott!  Warst du lieb, als du meinen Jungen von einer brüllenden Bombe zerreißen ließt!  Warst du da lieb, als du ihn ermorden ließt, lieber Gott, ja?  Du hast ihn nicht ermorden lassen; nein, richtig, du hast es nur zugelassen.  Du hast nicht hingehört, als er schrie und als die Bomben brüllten.  Wo warst du eigentlich, als die Bomben brüllten, lieber Gott?  Oder warst du lieb, als von meinem Spähtrupp elf Mann fehlten?  Elf Mann zu wenig, lieber Gott, und du warst nicht da, lieber Gott.  Die elf Mann haben gewiß laut geschrien in dem einsamen Wald, aber du warst nicht da, einfach nicht da, lieber Gott.  Warst du in Stalingrad lieb, lieber Gott, warst du aa lieb, wie?  Wir haben nach dir gebrüllt, geweint, geflucht!  Wo warst du da, lieber Gott?  Deine Kinder haben sich von dir gewandt, nicht umgekehrt?  Geh weg, alter Mann.  Du verdirbst mir meinen Tod.  Geh weg, du bist nur ein weinerlicher Theologe.  Du drehst die Sätze um: Wer kümmert sich um wen?  Wer hat sich von wem gewandt? Ihr von mir?  Wir von dir?  Du bist tot, Gott.  Oder bist du zu leise, Gott?  Hast du zuviel Tinte im Blut, Gott, zuviel dünne Theologentinte?  Geh, alter Mann, die Theologen haben dich in den Kirchen eingemauert, wir hören einander nicht mehr.  Die alten Leute haben es am schwersten, die sich nicht mehr auf die neuen Verhältnisse umstellen können.  Wir stehen alle draußen.  Auch Gott steht draußen, und keiner macht ihm mehr eine Tür auf.  Nur der Tod, der Tod hat zuletzt doch eine Tür für uns.  Und dahin bin ich unterwegs.

DER ANDERE: Du mußt nicht auf die Tür warten, die der Tod uns aufmacht.  Das Leben hat tausend Türen.  Wer verspricht dir, daß hinter der Tür des Todes mehr ist als nichts?

BECKMANN: Und was ist hinter den Türen, die das Leben uns aufmacht?

DER ANDERE: Das Leben!  Das Leben selbst!  Komm, du mußt weiter.  Du träumst, Beckmann, du träumst.  Die Menschen sind gut!

BECKMANN: Du bist ja so heiser, du optimistischer Tenor!  Hat es dir die Stimme verschlagen?  Oh ja, die Menschen sind gut.  Aber manchmal gibt es Tage, da trifft man andauernd die paar schlechten, die es gibt.  Aber so schlimm sind die Menschen nicht.  Ich träume ja nur.  Ich will nicht ungerecht sein.  Die Menschen sind gut.  Nur sind sie so furchtbar verschieden, das ist es, so unbegreiflich verschieden.  Der eine Mensch ist ein Oberst, während der andere eben nur ein niederer Dienstgrad ist.  Der Oberst ist satt, gesund und hat eine wollene Unterhose an.  Abends hat er ein Bett und eine Frau.

DER ANDERE: Beckmann, du träumst alles schief.

BECKMANN: Und der andere, der hungert, der humpelt und hat nicht mal ein Hemd.  Abends hat er einen alten Liegestuhl als Bett und das Pfeifen der asthmatischen Ratten ersetzt ihm in seinem Keller das Geflüster seiner Frau.  Nein, die Menschen sind gut.  Nur verschieden sind sie, ganz außerordentlich voneinander verschieden.  Einer ist weiß und der andere grau.  Einer hat 'ne Unterhose, der andere nicht.  Und der graue ohne Unterhose, das bin ich.  Pech gehabt, Wasserleiche Beckmann, Unteroffizier a.D., Mitmensch a. D., . . . Und sie gehen an meiner Leiche vorbei und kauen und lachen und spucken und verdauen.  So gehen sie an meinem Tod vorbei die guten Guten.

DER ANDERE: Wach auf, Träumer!  Du träumst einen schlechten Traum.  Da, da kommt der Direktor von dem Kabarett.  Soll ich mit ihm ein Interview machen, Antworter?

DER ANDERE: Komm, Beckmann!  Lebe!  Die Straße ist voller Laternen.  Alles lebt!  Lebe mit!

BECKMANN: Soll ich mitleben?  Mit wem?  Mit dem Obersten?  Nein!

DER ANDERE: Mit den andern, Beckmann.  Lebe mit den andern.

BECKMANN: Auch mit dem Direktor?

DER ANDERE: Auch mit ihm.  Mit allen.

BECKMANN: Gut.  Auch mit dem Direktor.  Hallo, Herr Direktor!

DIREKTOR: Wie?  Ja?  Was ist?

BECKMANN: Kennen Sie mich?

DIREKTOR: Nein -- doch, warten Sie mal.  Gasmaskenbrille, Russenfrisur, Soldatenmantel.  Ja, der Anfänger mit dem Ehebruchchanson!  Wie heißen Sie denn gleich?

BECKMANN: Beckmann.

DIREKTOR: Richtig.  Na, und?

BECKMANN: Sie haben mich ermordet, Herr Direktor.

DIREKTOR: Aber, mein Lieber --

BECKMANN: Doch.  Weil Sie feige waren.  Weil Sie die Wahrheit verraten haben.  Sie haben mich in die nasse Elbe getrieben, weil Sie dem Anfänger keine Chance gaben, anzufangen.  Ich wollte arbeiten.  Ich hatte Hunger.  Aber Ihre Tür ging hinter mir zu.  Sie haben mich in die Elbe gejagt, Herr Direktor.

DIREKTOR: Müssen ja ein sensibler Knabe gewesen sein.  Laufen in die Elbe . . .

BECKMANN: In die nasse Elbe, Herr Direktor.  Und da habe ich mich mit Elbwasser vollaufen lassen, bis ich satt war.  Einmal satt, Herr Direktor, und dafür tot.

DIREKTOR: (sentimental, aber doch sehr oberflächlich) Das ist ja schaurig!  Sie waren einer von denen, die ein bißchen sensibel sind.  Unangebracht heute, durchaus fehl am Platz.  Sie waren ganz wild auf die Wahrheit versessen, Sie kleiner Fanatiker!  Hätten mir das ganze Publikum kopfscheu gemacht mit Ihrem Gesang.

BECKMANN: Und da haben Sie mir die Tür zugeschlagen, Herr Direktor.  Und da unten lag die Elbe.

DIREKTOR: (wie oben) Sie waren eben einer von denen, von den Millionen, die nun mal humpelnd durchs Leben müssen und froh sind, wenn sie fallen.  In die Elbe, in die Spree, in die Themse -- wohin, ist egal.  Eher haben sie doch keine Ruhe.

BECKMANN: Und Sie haben mir den Fußtritt gegeben, damit ich fallen konnte.

DIREKTOR: Unsinn! Wer sagt denn das?  Sie wären prädestiniert für tragische Rollen.  Aber der Stoff ist toll!  Ballade eines Anfängers: Die Wasserleiche mit der Gasmaskenbrille!  Schade, daß das Publikum so was nicht sehen will.  Schade . . . (ab).

BECKMANN: Angenehme Nachtruhe, Herr Direktor!  Hast du das gehört? Soll ich weiterleben mit dem Herrn Oberst?  Mit dem Herrn Direktor?

DER ANDERE: Du träumst, Beckmann, wach auf.

BECKMANN: Träum ich?  Seh ich alles verzerrt durch diese elende Gasmaskenbrille?  Sind alle Marionetten?  Groteske, karikierte Menschenmarionetten?  Hast du den Nachruf gehört, den mein Mörder mir gewidmet hat?  Epilog auf einen Anfänger: Auch einer von denen -- du, Anderer!  Soll ich weiterhumpeln auf der Straße?  Neben den andern?  Sie haben alle dieselben gleichen gleichgültigen entsetzlichen Visagen.  Und sie reden alle so unendlich viel, und wenn man dann um ein einziges Ja bittet, sind sie stumm und dumm, wie -- ja, eben wie die Menschen.  Und feige sind sie.  Sie haben und verraten.  So furchtbar verraten.  Wie wir noch ganz klein waren, da haben sie Krieg gemacht.  Und als wir größer waren, da haben sie vom Krieg erzählt. Begeistert.  Immer waren sie gebeistert.  Und keiner hat uns gesagt, wo wir hingingen.  Nur -- Macht's gut, Jungens!  haben sie gesagt.  Macht's gut, Jungens?  So haben sie uns verraten.  Und jetzt sitzen sie hinter ihren Türen.  Und wir stehen draußen.  Und von ihren Kathedern und von ihren Sesseln zeigen sie mit dem Finger auf uns.  Und jetzt gehen sie an ihrem Mord vorbei, einfach vorbei.

DER ANDERE: Sie gehn nicht vorbei, Beckmann.  Du übertreibst. Du träumst.  Sieh auf das Herz, Beckmann.  Sie haben ein Herz!  Sie sind gut!

BECKMANN: Aber Frau Kramer geht an meiner Leiche vorbei.

DER ANDERE: Nein!  Auch sie hat ein Herz!

BECKMANN: Frau Kramer!

FRAU KRAMER: Ja?

BECKMANN: Haben Sie ein Herz, Frau Kramer?  Wo hatten Sie Ihr Herz, Frau Kramer, als Sie mich ermordeten?  Doch, Frau Kramer, Sie haben den Sohn von den alten Beckmanns ermordet.  Haben Sie nicht auch seine Eltern mit erledigt, wie?  Na ehrlich, Frau Kramer, so ein bißchen nachgeholfen, ja?  Ein Wenig das Leben sauer gemacht, nicht wahr?  Und dann den Sohn in die Elbe gejagt -- aber Ihr Herz, Frau Kramer, was sagt Ihr Herz?

FRAU KRAMER: (robust, um nicht zu heulen)  Es gibt eben Figuren, die haben halt Pech.  Sie waren einer von denen.  Sibirien.  Gashahn.  Ohlsdorf.  War wohl'n bißchen happig.  Geht mir ans Herz, aber wo kommt man hin, wenn man alle Leute beweinen wollte!  Sie sahen gleich so finster aus, Junge.  So ein Bengel!  Aber das darf uns nicht kratzen, sonst wird uns noch das bißchen Margarine schlecht, das man auf Brot hat.  Macht (sich) einfach davon ins Gewässer.  Ja, man erlebt was!  Jeden Tag macht sich einer davon.

BECKMANN: Ja, ja, leben Sie wohl, Frau Kramer?

Hast du gehört, Anderer?  Nachruf einer Frau mit Herz auf einen jungen Mann.  Hast du gehört, schweigsamer Antworter?

DER ANDERE: Wach -- auf -- Beckmann --

BECKMANN: Du sprichst ja plötzlich so leise.  Du stehst ja plötzich so weit ab.

DER ANDERE: Du träumst einen tödlichen Traum, Beckmann.  Wach auf!  Lebe!  Nimm dich nicht so wichtig.  Jeden Tag wird gestorben.  Soll die Ewigkeit voll Trauergeschrei sein?  Lebe!  Iß dein Margarinebrot, lebe!  Das Leben hat tausend Zipfel.  Greif zu!  Steh auf!

BECKMANN: Ja, ich stehe auf.  Denn da kommt meine Frau.  Meine Frau ist gut.  Nein, sie bringt ihren Freund mit.  Aber sie war früher doch gut.  Warum bin ich auch drei Jahre in Sibirien geblieben?  Sie hat drei Jahre gewartet, das weiß ich, denn sie war immer gut zu mir.  Die Schuld habe ich.  Aber sie war gut.  Ob sie heute noch gut ist?

DER ANDERE: Versuch es!  Lebe!

BECKMANN: Du!  Erschrick nicht, ich bin es.  Sieh mich doch an!  Dein Mann.  Beckmann, ich.  Du, ich hab mir das Leben genommen, Frau.  Das hättest du nicht tun sollen, du, das mit dem andern.  Ich hatte doch nur dich!  Du hörst mich ja gar nicht!  Du!  Ich weiß, du hast zu lange warten müssen.  Aber sei nicht traurig, mir geht es jetzt gut.  Ich bin tot.  Ohne dich wollte ich nichte mehr!  Du!  Sieh mich doch an!  Du!  (Die Frau geht kichernd mit ihrem Freund weiter, ohne Beckmann zu hören.) --

Du! Du warst doch meine Frau!  Du, du hörst mich ja gar nicht!  Du hast mich doch ermordet, du -- und jetzt gehst du einfach vorbei?  Alle Türen links und rechts der Straße sind zu.  Alle Laternen sind ausgegangen, alle.  Geh nicht so weit weg.  Schweigsamer du, hast du noch eine Laterne für mich in der Finsternis?  Rede, du weißt doch sonst immer so viel!!!

DER ANDERE: Da kommt das Mädchen, das dich aus der Elbe gezogen hat, das dich gewärmt hat.  Das Mädchen, Beckmann, das deinen dummen Kopf küssen wollte.  Sie geht nicht an deinem Tod vorbei.  Sie hat dich überall gesucht.

BECKMANN: Nein!  Sie hat mich nicht gesucht!  Kein Mensch hat mich gesucht!  Ich will nicht immer wieder daran glauben.  Ich kann nicht mehr fallen, hörst du!  Mich sucht kein Mensch!

DER ANDERE: Das Mädchen hat dich überall gesucht!

BECKMANN: Jasager, du quälst mich!  Geh weg!

MÄDCHEN: (ohne ihn zu sehen) Fisch!  Fisch!  Wo bist du?  Kleiner kalter Fisch!

BECKMANN: Ich?  Ich bin tot.

MÄDCHEN: Oh.  Du bist tot?  Und ich suche dich auf der ganzen Welt!

BECKMANN: Warum suchst du mich?

MÄDCHEN: Warum?  Weil ich dich liebe, armes Gespenst!  Und nun bist du tot?  Ich hätte dich so gerne geküßt, kalter Fisch!

BECKMANN: Stehn wir nur auf und gehn weiter, weil die Mädchen nach uns rufen?  Mädchen?

MÄDCHEN: Ja, Fisch?

BECKMANN: Wenn ich nun nicht tot wäre?

MÄDCHEN: Oh, dann würden wir zusammen nach Hause gehen, zu mir.  Ja, sei wieder lebendig, kleiner kalter Fisch!  Für mich.  Mit mir.  Komm, wir wollen zusammen lebendig sein.

BECKMANN: Soll ich leben?  Hast du mich wirklich gesucht?

MÄDCHEN: Immerzu.  Dich!  Und nur dich.  Die ganze Zeit über dich.  Ach, warum bist du tot, armes graues Gespenst?  Willst du nicht mit mir lebendig sein?

BECKMANN: Ja, ja, ja.  Ich komme mit.  Ich will mit dir lebendig sein! -- Was ist denn das?  Aber es wird ja alles ganz dunkel!  Wo bist du denn?

(Man hört ganz weit ab das Teck-Tock des Einbeinigen.)

MÄDCHEN: Hörst du?  Der Totenwurm klopft -- ich muß weg, Fisch, ich muß weg, armes kaltes Gespenst.

BECKMANN: Wo willst du denn hin?  Bleib hier!  Es ist ja auf einmal alles so dunkel!  Lampe, kleine Lampe!  Leuchte!  Wer klopft da?  Da klopft doch einer!  Teck -- tock -- teck -- tock!  Wer hat denn noch so geklopft?  Da --teck -- tock -- teck -- tock!  Immer lauter!  Immer näher!  Teck -- tock -- teck -- tock!  (schreit) Da!  (flüstert) Der Riese, der einbeinige Riese mit seinen beiden Krücken.  Teck -- tock -- er kommt näher! Teck -- tock -- er kommt auf mich zu!!  Teck -- tock -- teck -- tock!!! (schreit)

EINBEINIGER: (ganz sachlich und abgeklärt) Beckmann?

BECKMANN: (leise) hier bin ich.

EINBEINIGER: Du hast doch einen Mord begangen, Beckmann.  Und du lebst immer noch.

BECKMANN: Ich habe keinen Mord begangen!

EINBEINIGER: Doch, Beckmann.  Wir werden jeden Tag ermordet und jeden Tag begehen wir einen Mord.  Und du hast mich ermordet, Beckmann. Hast du das schon vergessen?  Ich war doch drei Jahre in Sibirien, Beckmann, und gestern abend wollte ich nach Nause.  Aber mein Platz war besetzt -- du warst da, Beckmann, auf meinem Platz.  Da bin ich in die Elbe gegangen, Beckmann, gleich gestern abend.  Wo sollte ich auch anders hin, nicht, Beckmann?  Ich klage dich nicht an, Beckmann, wir morden ja alle, jeden Tag, jede Nacht.  Aber wir wollen doch unsere Opfer nicht so schnell vergessen.  Beckmann, Morde darf man nicht vergessen, das tun die Schlechten.  Du vergißt mich doch nicht, Beckmann, nicht wahr?  Das mußt du mir versprechen, daß du deinen Mord nicht vergißt!

BECKMANN: Ich vergesse dich nicht.

EINBEINIGER: Das ist schön von dir, Beckmann.  Dann kann ich wenigstens in aller Ruhe tot sein ---

BECKMANN: (wacht auf) Teck -- tock -- teck -- tock!!!  Wo bin ich?  Hab ich geträumt?  Bin ich denn nicht tot?  Das ist das Leben!  Ein Mensch ist da, und der Mensch kommt nach Deutschland, und der Mensch friert, hungert und humpelt!  Ein Mann kommt nach Deutschland.  Er kommt nach Hause, und da ist sein Bett besetzt.  Eine Tür schlägt zu, und er steht draußen.  Er findet ein Mädchen, aber das Mädchen hat einen Mann, der hat nur ein Bein und der stöhnt andauernd einen Name.  Und der Name heißt Beckmann.  Eine Tür schlägt zu, und er steht draußen.  Er sucht Menschen, aber ein Oberst lacht sich halbtot.  Eine Tür schlägt zu, und er steht wieder draußen.  Ein Mann kommt nach Deutschland!  Er sucht Arbeit, aber ein Direktor ist feige, und die Tür schlägt zu, und wieder steht er draußen.  Ein Mann kommt nach Deutschland!  Er sucht seine Eltern, aber eine alte Frau trauert um das Gas, und die Tür schlägt zu, und er steht draußen.  Ein Mann kommt nach Deutschland!  Und dann kommt der Einbeinige -- teck -- tock -- teck -- kommt er, teck -- tock, und der Einbeinige sagt: Beckmann.  Sagt immerzu: Beckmann.  Er atmet Beckmann, er schnarcht Beckmann, er stöhnt Beckmann, er schreit, er flucht, er betet Beckmann.  Und der geht durch das Leben seines Mörders teck -- tock -- teck -- tock!  Und der Mörder bin ich.  Ich?  der Gemordete, ich, den sie gemordet haben, ich bin der Mörder?  Wer schützt uns davor, daß wir nicht Mörder werden?  Wir werden jeden Tag ermordet, und jeden Tag begehn wir einen Mord!  Und die Menschen gehen an dem Tod vorbei, achtlos, resigniert, blasiert, angeekelt und gleichgültig, gleichgültig, so gleichgültig!  Und der Tote fühlt tief in seinen Traum hinein, daß sein Tod gleich war wie sein Leben: sinnlos, unbedeutend, grau.  Und du -- du sagst, ich soll leben!  Wozu?  Für wen?  Für was?  Hab ich kein Recht auf meinen Tod?  Hab ich kein Recht auf meinen Selbstmord?  Soll ich mich weiter morden lassen und weiter morden?  Wohin soll ich denn?  Wovon soll ich leben?  Mit wem?  Für was?  Wohin sollen wir denn auf dieser Welt!  Verraten sind wir.  Furchtbar verraten.

Wo bist du, Anderer?  Do bist doch sonst immer da!  Wo bist du, Antworter, wo bist du, der mir den Tod nicht gönnte!  Wo ist denn der alte Mann, der sich Gott nennt?

Warum redet er denn nicht!!!

Gebt doch Antwort!

Warum schweigt ihr denn? Warum?

Gibt denn keiner eine Antwort?

Gibt keiner Antwort???

Gibt denn keiner, keiner Antwort???


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