Historische Augenblicke:

Deutsche Briefe des Zwanzigsten Jahrhunderts

Herausgegeben und kommentiert von Jürgen Moeller.  München: Beck, 1988.


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Zwei letzte Briefe aus Stalingrad

     Um die Stimmung der Truppe in der Festung Stalingrad kennenzulernen, hatte das Führerhauptquartier angeordnet, Feldpost zu beschlagnahmen und auszuwerten. Ein entsprechender Befehl vom Oberkommando des Heeres an die Heeresfeldpost-Prüfstelle führte zur Beschlagnahme von sieben Postsäcken, die im Januar 1943 mit der letzten Maschine aus dem Kessel von Nowo-Tscherkask ausgeflogen wurden. Die Briefe wurden geöffnet, die Prüfstelle entfernte Anschrift und Absender und übergab das Material nach Inhalt und Tendenz geordnet dem Oberkommando der Wehrmacht.  Da man sich ja in einem ordentlichen deutschen Krieg befand, übergab dieses die Briefe an die Heeresinformationsabteilung zur weiteren statistischen Behandlung.  Die ergab denn auch, daß über die Hälfte der Briefschreiber, dem Krieg "ungläubig, ablehnend" gegenüberstanden, immerhin aber noch über dreißig Prozent indifferent waren -- zumindest in ihren Briefen. Diese wurden nun zusammen mit anderen Unterlagen einem Beauftragten überlassen, der ein großes Dokumentarwerk über die Schlacht an der Wolga abfassen sollte.  Ein fertiges Buch wurde allerdings nicht daraus, die Sprache der Briefe war zu niederschmetternd. Daher entschied der Propagandaminister:  "Untragbar für das deutsche Volk." Die authentischen Abschriften wanderten in das Heeresarchiv Potsdam und wurden dort wenige Tage vor der Einnahme Berlins sichergestellt.
 

...Das mußt Du Dir aus dem Kopf schlagen, Margarete, und Du mußt es bald tun. Ich möchte Dir sogar raten, es gründlich zu tun, denn um so geringer wird die Enttäuschung sein.  Ich lese aus jedem Deiner Briefe den Wunsch, mich bald bei Dir zu sehen.  Es ist gar nicht so verwunderlich, daß Du Dich danach sehnst.  Ich warte ja auch, und zwar leidenschaftlich, auf Dich.  Dieser Umstand macht mich nicht so unruhig, sondern daß im Hintergund und zwischen den Zeilen ein Verlangen wartet, nicht nur den Mann und Geliebten, sondern den Pianisten wieder bei sich zu haben.  Das spüre ich sehr deutlich.  Ist es nicht eine komische Verwechslung der Gefühle, daß ich, der am unglücklichsten sein müßte, sich in sein Schicksal ergeben hat, und die Frau, die allen Grund hätte dankbar zu sein, daß ich überhaupt lebe (bis jetzt noch), hadert mit dem Schicksal, das mich betroffen hat.
     Ich habe oftmals den Verdacht, daß ein stiller Vorwurf gegen mich erhoben wird, so, als ob ich schuldig sei, nicht mehr spielen zu können.  Das wolltest Du doch hören.  Und darum bohrtest Du solange in deinem Briefen um Klarheit, die ich Dir besser und lieber persönlich gegeben hätte.  Vielleicht will es das Schicksal so, daß unsere Lage hier einen Stand erreicht hat, der keine Ausreden und kein Ausweichen mehr gestattet.  Ob ich noch einmal zu Dir sprechen kann, weiß ich nicht, darum ist es ganz gut, wenn diese Post in Deine Hände gelangt und Du es bereits weißt, wenn ich eines Tages auftaucht.  Die Hände sind hin, schon seit Anfang Dezember. An der linken fehlt der kleine Finger, noch schlimmer ist es, daß an der rechten Hand die drei mittleren Finger erfroren sind.  Ich kann den Trinkbecher nur mit dem Daumen und kleinen Finger halten. Ich bin ziemlich hilflos, und man merkt es erst, wenn einem die Finder fehlen, wie sehr man sie bei den kleinsten Verrichtungen gebraucht.  Am besten kann ich noch schießen mit dem kleinen Finger.  Die Hände sind hin.  Ich kann doch nicht mein ganzes Leben schießen, wenn ich zu etwas anderem nicht mehr zu gebrauchen bin.  Ob es vielleicht zum Förster langt?  Das ist Galgenhumor. Und ich schreibe es auch nur, um mich zu beruhigen.
     Kurth Hahnke, mir ist so, Du kennst ihn aus dem Kollegium aus 37, hat auf einem Flügel in einer kleinen Seitenstraße am Roten Platz vor acht Tagen die Appassionata gespielt.  So was erlebt man nicht alle Tage, direkt auf der Straße stand der Flügel. Das Haus ist gesprengt worden, aber das Instrument haben sie wohl aus Mitleid vorher herausgeholt und auf die Straße gestellt.  Jeder Landser, der vorbeikam, hat drauf rumgehämmert; und ich frage Dich, wo stehen auch sonst Klaviere auf der Straße.  Ich habe es schon geschrieben;  am 4. Januar hat Kurt unerhört gespielt, er wird bald in der vordersten Front stehen.
     Entschuldige, jetzt habe ich schon für "Reihe" das Wort "Front" gebraucht, so sehr hat der Krieg Einfluß auf alle um uns herum. Wenn der Junge heimkommt, werden wir bald viel Rühmenswertes von ihm hören.  Ich werde diese Stunden bestimmt nicht wieder vergessen. Dafür sorgen schon die Art und der Rahmen des Publikums.  Schade, daß ich kein Schriftsteller bin, um das in Worte zu kleiden, wie die hundert Landser in ihren Mänteln hier herumhocken, mit Decken über dem Kopf;  überall bummerte es, aber keiner ließ sich stören, sie hörten Beethoven in Stalingrad, auch wenn sie ihn nicht verstanden.  Ist Dir nun wohler, da Du die volle Wahrheit weißt?
 

 TEXT PAIRS 4-6


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Januar 1943
. . . Liebster Vater!  Die Division ist ausgeschlackt für den Großkampf, aber der Großkampf wird nicht stattfinden. Du wirst Dich wundern, daß ich an Dich schreibe und an Deine Adresse im Amt, aber was ich in diesem Brief zu sagen habe, ist nur unter Männern zu sagen.  Du wirst es in der Dir eigenen Form an Mutter weitergeben.  Wir dürfen heute schreiben, heißt es bei uns.  Das bedeutet für einen, der die Lage kennt, wir können es nur noch einmal.
     Du bist Oberst, lieber Vater, und Generalstäbler.  Du weißt, was das bedeutet, und mir ersparst Du damit Erklärungen, die sentimental klingen könnten.  Es ist Schluß.  Ich denke, es wird noch ungefähr acht Tage lang gehen, dann ist der Kragen zu.  Ich will nicht nach Gründen suchen, die man für oder gegen unsere Situation ins Feld führen könnte.  Diese Gründe sind jetzt gänzlich unwichtig, und außerdem ohne Nutzen, aber wenn ich dazu etwas zu sagen habe;  dann  das eine:  sucht nicht nach Erklärungen für die Situation bei uns, sondern bei Euch und bei dem, der diese zu verantworten hat.  Haltet den Nacken steif.  Du, Vater, und die mit Dir der gleichen Ansicht sind.  Seid auf der Hut, damit nicht größeres Unheil über unser Vaterland kommt. Die Hölle an der Wolga soll Euch Warnung sein. Ich bitte Euch, schlagt diese Erkenntnis nicht in den Wind.
     Und nun noch zum Gegenwärtigen. Von der Division sind noch 69 Mann verwendungsfähig.  Bleyer lebt noch und Hartlieb auch.  Der kleine Degen hat beide Arme verloren, er wird wohl bald in Deutschland sein.  Für ihn ist auch Schluß.  Fragt ihn dann nach Einzelheiten, die für Euch wissenswert sine.  D. hat keine Hoffnung mehr.  Ich möchte wissen, was er manchmal über die vierhundert Schuß.  Einen Granatwerfer und 10 Granaten.  Sonst nur noch Kohldampf und Müdigkeit.  Berg . . . ist mit 20 Mann ausgebrochen, ohne Befehl.  Besser, in drei Tagen wissen, wie es ausgeht, als in drei Wochen.  Kann es ihm nicht verdenken.
     Zum Schluß das Persönliche.  Du kannst Dich darauf verlassen, daß alles anständig zu Ende gehen wird.  Ist ein bißchen früh mit dreißig Jahren, ich weiß.  Keine Sentiments.  Händedruck für Lydia und Helene.  Kuß für die Mama (vorsichtig sein, alter Herr, Herzfehler bedenken), Kuß für Gerda. Grundsätzlich Gruß an alle übrigen.  Hand an den Helm, Vater, Oberleutnant . . . meldet sich bei Dir ab.