"Streicheln im virtuellen Leben"

by Rainer Köhler

Source: Süddeutsche Zeitung,, 82 (10 April 1997): 3
Reprinted with permission of the Süddeutsche Zeitung


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Streicheln im virtuellen Leben

 

Endlich braucht ein Computer Futter, Pflege und Zuneigung

-- ganz Japan ist vernarrt in ein elektronisches Haustier

-von Rainer Köhler

Tokio, 9. April -  Unser Tamagotchi läßt sich streicheln, füttern, ausschimpfen und verhätscheln -- und das alles auf Knopfdruck. Andere, die mehr Geld für ihren kleinen Freund ausgeben, können ihren Tamagotchi gar mit digitalen Süßigkeiten verwöhnen und allerlei Spielchen mit ihm exerzieren. Dafür bedankt er sich artig und sehr geräuschvoll und zeigt eindeutig, wie wohl sich das Tierchen fühlt -- oder auch nicht.  Was ein Tamagotchi ist?  Auf Japanisch heißt das "liebenswertes Ei."  Es hat die Größe einer Armbanduhr, und ist in Wahrheit ein virtueller Hund, Vogel, Delphin, ein elektronisches Tierchen, das auf einem digitalen Display eines Mini-Computers erscheint.
     Bei Japans Teenagern ist derzeit nichts mehr "in" als Tamagotchi.  Kaum einer, der nicht mit einem solchem elektronischen Spielzeug herumspaziert.  Wenn man den Mist des Vögelchens per Knopfdruck beseitigt, springt es vor Freude auf und ab.  "Da vergißt man leicht, daß der Kleine eigentlich nur ein Abbild der Realität ist," verkündet die Herstellerfirma Bandai begeistert. Tamagotchi rührt nicht nur Kleinkinder mit schlichtem Gemüt an, "selbst Oberschüler, erwachsene Frauen und berufstätige Männer kaufen ihn," sagt Firmen-Sprecherin Tomio Mototu.
     Fast zwei Millionen Exemplare hat das größte japanische Spielwarenunternehmen seit dem Tamagotchi-Debüt im Novermber verkauft.  Die Nachfrage läuft dem Tierchen aber immer noch davon.  Auf dem Schwarzmarkt muß man bereits bis zu 570 Mark für einen einfachen Vogel zahlen, zwanzigmal mehr als im Fachgeschäft, wo die virtuellen Viecher fast immer ausverkauft sind.

Die Fusion der Giganten
     Solange der Zeitgeschmack es erlaubt, wird das ein Geschäft ohne Ende sein. Tamagotchi ist zwar theoretisch eine Spezies mit unbeschränkter "Lebensdauer," aber nur wenn sie laufend und aufopferungsvoll gepflegt wird.  Wenn man das seltsame Ding nur ein paar Stunden zu lange vernachlässigt, siecht es dahin.  Schließlich stirbt das Tier einen virtuellen Tod, der für den Benutzer freilich sehr real wird.  Das Schlimmste, was einen Tamagotchi-Fan passieren kann, wenn er seinen Schützling vergißt.  Er muß einen Neuen kaufen.
     Das Geschäft muß so gut laufen, daß der Kaufrausch eine der spektakulärsten Industri-Fusionen in Japan anbahnte, die sogar das Kartellamt beschäftigt.  Die Firma Bandai will künftig mit dem führenden japanischen Videospielhersteller Sega zusammengehen.  Vom 1. Oktober an wollen sie als gemeinsame Marke Sega Bandai ihr Know-how nd ihre Kapitelkraft bündeln und mit Videospielen, virtueller Realität sowie Computergraphiken darangehen, den Weltmarkt aufzuräumen.
     Dabei ist die jüngste Kreation der japanischen Unterhaltungselektronik technisch nicht eben weltbewegend und nur bedingt nützlich, aber in jedem Fall ein ausbaufähiger Verkaufshit.  Demnächst wird das Tierchen auch die mobilen Telephone erobern -- im Juni soll es endlich das Tamagotchi-Handy geben.  Das muntere Video-Geschöpf hüpft und schnurrt dann auf der Apparatanzeige herum, und japanische Schulmädchen dürfen mit dem Phono-Set ihren absoluten Lieblingsbeschäftigungen gleichzeitig nachgehen:  das "Haustier" verhätscheln und dabei ausgiebig telephonieren.  Aber das ist noch nicht alles.  Per Handy kann das Tamagotchi elektronisch auf einen anderen Apparat verladen und dort gefüttert oder bespielt werden, wenn dieser fit für Tamagotchi ist.  Rund 625 Mark -- so die offizielle Preisempfehlung mit viel Spielraum für den schwarzen Markt -- soll dieser neueste Spaß kosten.  In ganz Japan wird mit einem mächtigen Run auf die knallbunten Tamagotchi-Handys gerechnet.
     Was am Anfang nur wie ein neuer Spleen aussah, ist mittlerweile fast ein japanischer National sport geworden.  Das virtuelle Haustier eignet sich selbst zum Sammeln -- gewissermaßen für einen privaten Zoo.  Wer Glück hat, besitzt das handtellergroße Spielzeug bereits als Hund oder Katze, als Vogel oder Fischchen, die allesamt kurz nach dem Einschalten des Computers aus dem Ei platzen.  Ganz neu ist Fin-Fin -- eine Art fliegender Delphin, mit dem der Benutzer über einen speziellen Sensor direkt sprechen kann.  Fin-Fin zieht sich geschockt zurück, wenn sein Besitzer ihn anschreit, und wird bei freundlicher Behandlung immer zutraulicher -- fast wie im richtigen Kino.
     Trotz der allgemeinen Begeisterung gibt es in Japan auch ernste nachdenkliche Stimmen.  Der Psychologe Takabashi Tomita glaubt, daß das virtuelle Haustier den Wunsch vieler Großstädter befriedigt, für etwas sorgen zu können.  "Dieses instinktive Bedürfnis können sich die meisten Einwohner in den überfüllten Megastädten Japans wie Tokio oder Osaka nicht erfüllen, weil sie dort nur sehr selten richtige Haustiere halten dürfen," sagt Tomita.  Eine Schülerin erzählte im Fernsehen, das Spielzeug lehre sie Charakterzüge, die sie für ihr weiteres Leben bestimmt brauchen werde.  So lerne sie spielerisch, sich um ein Kind zu kümmern.

Freundschaften ade
     Kritiker sehen Tamagotchi dagegen mit Sorge.  Der Direktor des Tokioer Kinder-Forschungsinstituts, Sumio Kondo, beklagt den neuen Elektronik-Kult als Ausdruck von Einsamkeit und sozialer Inkompetenz.  Die jungen Leute, die so vernarrt mit ihren Computer-Tieren spielen, wollten keine wirkliche Verantwortung für lebendige Wesen übernehmen, sagt der Soziologe.  Nachlässigkeit wird nur mit Taschengeldverlust bestraft.  Notfalls kauft man sich halt einen neuen Tamagotchi, und der ist sowieso bestimmt noch viel schicker und raffinierter ausgestattet als der alte.  Was macht es da schon, wenn junge Leute in Japan im wirklichen Leben immer schwerer Freundschaften schließen?  Sie haben doch die virtuelle Realität.