"Einmal Leipzig
einfach"
by Kuno Krause
Source: Die Zeit, 17 November 1989
(used by permission of author)
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text.
Einmal Leipzig einfach
Bloß schnell zurück:
Die Geschichte von einer, die kam, weil so viele gefahren sind
"Leipzig einfach?" fragt der Bahnbeamte
ungläubig nach. Das war ihm am Fahrkartenschalter
Hamburg-Hauptbahnhof noch nicht untergekommen. Aber er
hat sich nicht verhört. Silvana Hartmann, am 5.
Oktober im Sonderzug über die Prager Botschaft in die
Bundesrepublik übergesiedelt, will "einfach wieder nach
Leipzig."
Ihr Entschluß ist
unumstößlich. "Auch wenn ich dafür ins
Gefängnis muß." Aber die 21jährige
weiß, daß ihr nichts passieren wird. Die
DDR-Führung hat eine allgemeine Amnestie für
Rückkehrer erlassen. "Gestern abend, es war schon
bald elf," erzählt sie, "da habe ich nur noch die
Papiere eingesteckt und bin los zur Autobahn." Schon
wieder hatte es bei ihren Verwandten in Pinneberg Streit
gegeben. Nach der Flucht, da seien sie dort schon
großzügig aufgenommen worden. "Aber dann,"
befindet sie, "auf länger war das doch nichts."
Da stand sie nun, in ihren
Röhrenhosen, den Stiefeln und der Jeansjacke, die
Plastiktüte in der Hand, frierend an einer Auffahrt
unweit Hamburg. Ihr Ziel: die Ständige Vertretung der
DDR in Bonn. "Zum Glück," sagt sie und blickt das
erste Mal auf, "hat der Herr Weise mich mitgenommen.
An wen hätte ich da geraten können?" Jetzt
sitzt sie bis zur Abfahrt des Zuges wieder im Büro des
Hamburger Geschäftsmannes, der sie aufgelesen
hatte. Sie ist schüchtern, einen Kaffee nimmt sie
gern, ein Stück Kuchen ist schon zuviel. Die
Augen, ohnehin halb unter dem blonden Pony versteckt, meiden
den direkten Blickkontakt. Ein verängstigtes
Kind, das sich verlaufen hat.
Der Geschäftsmann erkundigte
sich erst einmal für sie beim Ministerium für
Innerdeutsche Beziehungen nach den Modalitäten einer
Rücksiedlung, sie rief ihren Arbeitgeber in Leipzig an,
der informierte die örtlichen Behörden, und nun
kann es mit einem Tag Verspätung wirklich
losgehen: direkt über die Grenze nach
Hause. Sie ist froh: "Dann bin ich ruhiger."
Schon erscheint ihr alles wie ein
Traum. "Vielleicht," sagt sie, "wäre es besser
gewesen, wenn wir in Hof nicht so empfangen worden
wären. Dann hätte man gemerkt, daß es
doch nicht so leicht ist." Sicher, räumt sie ein,
"hier gibt es alles, was man sich vorstellen kann."
Stundenlang sei sie durch die Kaufhäuser
gegangen. "Doch eigentlich bin ich hier nur
herumgeirrt und habe den Weg nicht mehr gefunden." --
"Klar," gibt sie zu, und es klingt wir eine künstliche
Verbeugung vor dem besseren politischen System, "das ist ein
freier Staat." Das aber sei es gerade: "Hier
muß man seine Grenzen selber ziehen, und das macht mir
angst. Wenn man anders erzogen würde, ist das
nicht so einfach."
Wie sie hierhergekommen ist?
"Das," sagt die junge Frau und verzieht sich noch tiefer in
den Jackenkragen, "kann man eigentlich gar nicht
beschreiben. Das war wie ein Magnet, der Ruf nach
Freiheit, wie im Unterbewußtsein." Sie setzt an,
tausend Gründe wären aufzählen, "die
ständige Bespitzelung" und "die Verarschung deines
Charakters dort" und "die Neugierde, ob das stimmt, wie sie
den Westen immer schlechtmachen." Sie unterbricht,
zuckt mit den Schultern: "Eigentlich auch, weil so viele
gefahren sind."
Da war ihr Cousin. Er hatte
seine Ersparnisse bereits in tschechische Kronen
eingetauscht. "Ich sag noch," erinnert sie sich, "das
machst du sowieso nicht." Doch er ging wirklich zum
Bahnhof. "Jetzt fährt der einfach," habe sie
gedacht, "und drüben hat er vielleicht das
schönste Leben. Der kann mich noch nicht
hierlassen." Sie schrieb noch einen Abschiedsbrief
für ihre Mutter und ihr dreijähriges Kind.
Dann ging sie hinterher. "Der hat gar nicht versucht,
mich zu überreden."
Auf dem Bahnstieg sahen Cousin und
Cousine sich nur noch stumm an. "Vielleicht haben wir
nicht geredet, um gar nicht so richtig ins Bewußtsein
kommen zu lassen, was für einen Schritt wir
machen." Dazu blieb dann auch kaum noch
Gelegenheit. Im Zug nach Prag hatte die Furcht vor den
Grenzkontrollen sie völlig paralysiert. "Ich habe
nur immer aus dem Fenster geguckt, aber gar nichts
gesehen." Vor allem: "Es war der letzte Zug. Mir
taten dann nur noch die anderen leid, die es nicht mehr
geschafft hatten. Jetzt machten sie doch zu."
Dann, sagt sie, habe sie sich nur noch "wie in einem
Schwarm" bewegt: "Die Wege finden andere. Man
zieht einfach mit. Sonst hätte ich ja gar nicht
mehr gewußt, wie man weiterkommt." Nach einer
kleinen Pause: "Ein richtiges Denken war das
nicht."
In Prag war die Angst
verdrängt, ein neues Gefühl nahm sie ein:
"Vor der Botschaft, das war eine große Familie.
Wie wir das Fleisch geteilt haben, das wurde sogar vom
Fernsehen gefilmt." Plötzlich, in der Fremde, die
Geborgenheit. "Jeder kümmerte sich um den
anderen." Da war die gemeinsame Runde gegen das
Ungewisse und die gemeinsame Flasche gegen die
Kälte. "Mit dem Schnaps haben wir die Nerven
getötet, daß man nicht mehr daran denkt."
Und als dann endlich der Zug in die Freiheit abgefahren sei
und die Tschechen ihnen mit Tränen in den Augen
Glück gewünscht hätten, "da habe ich auch
geweint."
Und in Hof, die Menschen auf dem
Bahnsteig, die Berge von Kleidern, das wird sie nie
vergessen: "Und in der Freiheitshalle, da haben wir alles
gehabt. Zwei Fernseher, Bier war da, Duschen, im
Prinzip alles." Mit zwei Koffern voller Kleidung fuhr
sie weiter. "Nur die von der Presse," will sie
auch das Negative nicht verschweigen, "die haben uns
genervt. Immer wieder kamen sie mit der Kamera. Und dann
mußten wir erzählen, was wir durchgemacht
hatten."
Dadurch fiel die Gemeinschaft
auseinander: "Da hat dann jeder für sich
weitergemacht." Nun saß sie bei ihren Verwandten
in Pinneberg. "Ist dir überhaupt klar," habe ihr
Cousin sie da gefragt, "daß du jetzt im Westen bist?"
Da sei sie "irgendwie aufgewacht." Mit Schwierigkeiten
habe sie schon gerechnet, aber auf dem Arbeitsamt -- "die
Vordrucke, dieser Schreibkram. Das kann man doch gar
nicht. Bei uns füllen die doch die Bögen
selber aus." In ihrem Beruf als Köchin zu
arbeiten sei für sie kaum in Frage gekommen.
"Hier gibt es ein Schichtsystem bis in die Nacht, so etwas
kenne ich nicht." Und was hier so gekocht würde:
"Hummer und Krabben. Mit solchen Lebensmitteln sind
wir doch nie umgegangen." Resigniert fürchtet
sie, nur Gemüse putzen zu dürfen. "Die können
mich doch gar nicht an den Herd lassen." Zur
Unsicherheit gesellte sich nun das Mißtrauen,
"daß die einen ausnutzen." Auch ihr Cousin,
gelernter Gärtner, gab nach zwei Wochen die Arbeit in
der Baumschule wieder auf. "Der hatte sich doch etwas anders
vorgestellt."
"Sicher," sagt sie fast lakonisch,
"das ist die Freiheit: reisen dürfen. Aber
ich war ja gar nicht so scharf drauf. Ich kenne ja
nicht einmal die DDR. An der Ostsee war ich noch
nie." Einmal sei sie im Harz gewesen, damals mit der
Schulklasse.
Nun kehrt sie von ihrer ersten
großen Reise zurück. Ihre Mutter,
fürchtet sie, wird vielleicht enttäuscht
sein. Sie habe mit dem Westen immer so viele
Hoffnungen verbunden. "Aber sie wird sich
freuen." Und auch ihr Freund, der dortgeblieben ist,
habe am Telephon gesagt, sie solle zurückkommen. Sie
kann es kaum noch erwarten: "Jetzt weiß ich,
daß dort mein Zuhause ist."
-Kuno Kruse