Kritische Zeugnisse


Wolf Schirrmacher

" . . . OHNE ABSCHIED -- OHNE ANKUNFT' (1974)

Zur Hamburger Uraufführung des Schauspiels "Draußen vor der Tür" von Wolfgang Borchert

Der Tod: "Dieser Beerdigungsunternehmer, dessen Geschäft in demselben Maße zunimmt, wie die Menschheit abnimmt, der überfressen ist und deshalb einen Schluckauf hat."
Wolfgang Borchert, gest. 20. 11. 47

Da erschienen ein paar Kurzgeschichten, die sich seltsam festhaken, herumtragen, der Nebenmann, der gurgelnd zusammensackte, das Elternhaus, in Sekunden zerwalzt, die Fackeln der Dörfer.  Eine Sprache, platt wie der Alltag, kurzatmig, gewalttätig, kindlich, stellenweise schartig wie ein Granatsplitter, der sich in die seelische Hornhaut hineinbohrt, voll beschwörender Wiederholungen, grellbunt wie Reklame.  Ein Protest, ein Sieg über die tausend Schönschreiber: der fünfundzwanzigjährige Wolfgang Borchert.

Er schrieb ein Hörspiel, "das kein Theater spielen und kein Zuschauer sehen will".  Aber es erregte Aufsehen, mußte wiederholt werden, ging an andere Sender und wurde, in einer Theaterfassung, von 16 großen Bühnen angenommen.  "Draußen vor der Tür".  Am Vorabend der mit Spannung erwarteten Uraufführung in den Hamburger Kammerspielen (unter der Regie Wolfgang Liebeneiners) meldete der Rundfunk seinen Tod.  Eine unheilbare verschleppte russische Gelbsucht hatte ihn seit Jahren ans Bett gefesselt.

Die Handlung: Einer kehrt heim aus Sibirien.  Zerschlagene Knochen, graues Gesicht hinter der Gasmaskenbrille, geschorener Schädel.  Er findet seine Frau bei einem andern und will Schluß machen.  Aber der Tod will ihn nicht.  Und nun folgen, wie die Bilder eines Totentanzes aneinandergereiht, die Szenen, da er mit der grausamen Wirklichkeit des Nachkrieges, mit den Tatsachen und Menschen, wie sie heute sind, zusammenstößt: eine zärtliche junge Frau nimmt ihn auf, aber die Vision ihres vermißten Mannes reißt ihn aus ihren Armen.  Der Gedanke an die Gefallenen, für die er bei einem Spähtrupp ostwärts Gorogok verantwortlich war, läßt ihm keine Ruhe.  Das will er seinem Oberst klarmachen.  Der aber, längst in Zivil und im Schoße seiner Familie, ist überhaupt nicht imstande, ihn zu begreifen, hält seine gestammelten Angstträume für einen Witz.  Er will arbeiten, aber der glattrasierte Direktor hat nur die üblichen schönen Worte für ihn, mit denen die Jugend heute allgemein abgespeist wird.  Schließlich will er zu Hause bei den Eltern unterkriechen.  Aber sein Vater war Nazi, die beiden Alten sind vor der Hetze der Nachbarn in den Gastod geflüchtet, haben sich "selber entnazifiziert".  (Die Nachbarin:  "So was Dummes, von dem Gas hätten wir einen ganzen Monat kochen können.")

Das Ganze ist für das Deutschland von 1947 kein außergewöhnlichter Fall.  Aber all diese Einzelheiten bleiben halb hinter einem unwirklichen Gazeschleier verhüllt, hinter dem, zwischen Tod und Traum, apokalyptische Visionen des Dichters aufleuchten.  Er klebt nicht am Diesseitigen.  Es geht ihm nicht um Psychologie, Moral, soziales Gewissen, Militarismus oder Nazigreuel.  Er zielt ins Metaphysische, seltsamerweise fühlen wir Menschen uns für das, was überall durch unsere Hand geschieht, durchaus nicht verantwortlich.  Der Gedanke, die Ursachen des Schreckens im eigenen Innern zu suchen, gleitet an uns ab.  Die Not hat uns nicht aufgerüttelt, sondern noch mehr abgestumpft.  Vor diesem Materialismus bricht er in den Schrei aus: "Ist dies nocht die alte Erde?  Ist uns kein Fell gewachsen?  Wächst uns kein Schwanz, kein Raubtiergebiß, keine Kralle?"

So hadert der Sterbensmüde zuletzt mit Gott, bohrt in seiner Auswegslosigkeit nach dem Sinn.  Doch es erscheint nur ein ohnmächtiger, blind umhertappender Greis, der um seine Kinder jammert -- eine disillusionierende Gestalt, die, ohne, daß diese Überzeugung direkt ausgesprochen wird, zu dem Schluß führen muß, daß der heutige Mensch auf dem Weg durch das Chaos mehr denn je ganz auf sich selbst angewiesen ist.  Doch der Zermürbte ist am Ende seiner Kraft.  Sein letzter Schrei nach Antwort verhallt ungehört in einer leeren, von grellen Schlaglichtern durchzuckten Welt.  Hier ist etwas von jenem düsteren Lebensgefühl Gestalt geworden, das die Philosophen das "Geworfensein" nennen . . .

Diese gespenstischen Visionen sind zwar noch keineswegs die so ersehnte dichterische Deutung unserer Not, aber sie hinterlassen tiefe Erschütterung.  Mit seltener Sprachkraft hat hier einer nicht nur sein persönliches Schicksal, sondern das einer ganzen Generation gestaltet.  Es steht uns nicht an, diese im tödlichen Fieber hingeworfene Skizze daraufhin zu untersuchen, ob ein Strich daneben ging, ihre dramatischen Schwächen, ihre monologischen Längen zu zerpflücken und mit dem Rebellierenden um seine Motivierungen zu rechten.  Schweigend, gepackt verlassen die Leute das Theater.  (Nur bei der Premiere gab es langen Beifall.)  Es ist nicht jedermanns Sache, die Ausweglosigkeit der Realität so konsequent auch auf das Irreale auszudehnen.  Wir fingen Gesprächsfetzen auf: ". . . das ist ja alarmierend . . . so ein Nihilismus!" Jawohl, hier hat einer reine Tisch gemacht.  Aber dieser Mut zur Wahrheit kann nur von denen als alarmierend empfunden werden, die keine Ahnung davon haben, was für ein Sprengstoff sich in dieser Kriegsjugend angesammelt hat.  Alle überlieferte, äußerlich Respekt heischende Autorität zersetzt sich vor ihr, und allzuoft stehen die Jungen auf der Suche nach einem Halt nur noch sich selbst gegenüber.  Die Älteren, die noch manches Bruchstück von früher retten konnten, werden vor der Unbedingtheit dieser Jugend noch oft erschrecken müssen.

Dabei ist sie weit davon entfernt, sich unter das Joch des Nihilmus zu beugen, wenn auch gerade die besten unter diesem Joch hindurch müssen.  Wolfgang Borchert war einer jener Feuerköpfe, die alles, was sie erleben, bis zur Neige auskosten.  (Auch sein großer Namensvetter [Johann Wolfgang von Goethe: W. K.)] hat sich mit 25 Jahren den todessüchtigen Werther von der Seele geschrieben.)  Nicht nur der düstere Widerschein des Nachkriegs ist sein besonderes Zeichen.  Bemerkenswerter war -- man spürt es fast in jedem seiner Sätze --. daß hier einer schreiben und bekennen mußte, um nicht an innerem Überdruck zu ersticken -- während die meisten heute am Druck von außen ersticken, nichts Überzeugendes zu bekennen haben oder in innerere Ermattung verstummen. Berechnende Routiniers, brave Lehrstücke, geistreiche Analysen haben wir genug!  Hier aber schrieb ein Begnadeter, der das Schweigen brach und die tödliche Vereinsamung hinausschrie.

Er resignierte nicht.  Das zeigte sein letztes Werk, ein Manifest, das er seinen Freunden wenige Tage vor seinem Tode sandte.  Ein beschwörender Ruf an alle, sich entschlossen vor dem drohenden Abgrund zurückzustemmen und jede Tätigkeit zu verdammen, die einen neuen Krieg unterstützen könnte.  Noch als Schwerkranker war er von einer geradezu gläubigen Bereitschaft nach dem Neuen erfüllt.

"An das Leben glauben wir", heißt es in einer seiner Erzählungen, "wir: Mitten im Tod.  Das sind wir, wie Illusionslosen, mit den großen unmöglichen Rosinen im Kopf.  Wir sind eine Generation ohne Abschied, aber wir wissen, daß wir voller Ankunft sind zu einem neuen Lieben, zu einem neuen Lachen, zu einem neuen Gott.  Vielleicht begreifen wir es heute nacht, nächste Woche, auf dem Sterbebett . . . "

Quelle: Der Ruf: Unabhängige Blätter der jungen Generation, 2. Jahrgang, Nr. 23 (1. 12. 1947)


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