Kritische Zeugnisse
Reinhard Baumgart
WOLFGANG BORCHERT, EIN HUNGERKÜNSTLER (1971)
Von Borchert zu Handke, das hat gut zwanzig Jahre
gedauert, zwanzig Jahre Geschichte und Literaturgeschichte,
und wer die Zeitspanne etwas entschlossener, lauter fast ein
Vierteljahrhundert" nennt, macht den Abstand schon
deutlicher. Wolfgang Borchert, das war damals, 1947,
tatsächlich unser Peter Handke: Er drückte uns
aus, glaubten wir, er war unser veröffentlichtes
Bewußtsein. Hätte damals jemand bewiesen,
wie heute an Handke bewiesen wird, daß auch Borchert
literarisch sehr unbefangen aus zweiter oder dritter Hand
lebte -- und hätte das nichts bewiesen. Im
Gegenteil, auch Borchert hatte damals in jeder Kleinstadt
gleich ein paar, die nicht nur lesen wollten, wie er sie
ausdrückte, sondern die auch sich ausdrücken
wollten wie er sie, Epigonen, wie man solche produktiven
Leser allzu hochfahrend nennt. Ich also war achtzehn
und auch einer.
Kein Wunder, daß das Wiederlesen von Borchert wie eine
Wiederbegegnung mit mir selbst in diesem früheren
Zustand war, daß ich dieses frühere Ich am
liebsten gar nicht gewesen sein wollte, oder, da es sich gar
nicht verleugnen ließ, daß ich ihm gern nur von
oben herab und herablassend den schwermütigen,
unaufgeklärten Kopf gestreichelt hätte.
Kein Wunder, daß ich probeweise und in Gedanken
zunächst versuchte, dieses knappe, fragmentarische
Borchert-Werk loszulösen aus aller aurobiographischen
Peinlichkeit, einfach kaltzustellen in der
Literaturgeschichte, als eine Spezialität unter anderen
und unter diesen keine sehr aufregende, eine ebensowilde wie
welke Nachblüte des Expressionismus -- das ließe
sich doch nachweisen. Auch hier wieder ein
spätbürgerlicher Krieg als Hintergrund für
eine neue Weltbeben- und O-Mensch-Poesie, kosmopolitisch,
rhapsodisch, pazifistisch. O Mensch, dieser besonders
allein gelassene Eine, steht trotz aller Verlassenheit doch
riesig und pathetisch wieder als Denkmal für die ganze
Menschheit, zugleich Lazarus und Baal. Auch hier nach
einer Geschichtskatastrophe der große Satz aus der
Geschichte hinaus ins vage Grundsätzliche. Da soll und
kann sehr genau nichts werden. Da würde Reflexion
dem poetischen Schwung nur ein Bein stellen. Da wird
aus voller kranker Brust nur gesungen.
So einfach ginge das, so halbwahr und falsch wäre
es.
Oder, ein anderes Ausweichmanöver: es ließe sich
ja auch darüber nachdenken, wie Borchert
weitergeschrieben hätte, wäre er nicht 1947 mit
sechsundzwanzig Jahren gestorben, und sein letzter
Geschichtenband "An diesem Dienstag" könnte dafür
als Wegweise dienen. In diesen Prosastücken
fällt eine Knappheit auf, ein so kühler,
pointiernder Umgang mit dem immer noch gleichen Material,
Kriegs- und Nachkriegssituationen, daß während
dieser Lektüre unser oder mein allzu eindeutiges
Borchert-Bild sich schon verändert und neue und
geläufigere Konturen annimmt. So einen
weiterlebenden Borchert höre ich vorlesen bei der
Gruppe 47, sich in der Technik und sicher im Engagement, im
Vortragston schon heruntergestimmt auf Understatement.
Er hat genau da aufgehört, wo Böll und Schnurre um
die gleiche Zeit anfingen. Daß sein Pathos der
ersten Stunde auch ihm nicht mehr geheuer war, daß
sein Geschmack ihn einholen würde, daß auch er
die vorher groß zur Schau getragenen Wunden
desinfizieren würde mit einem scharfen, grotesken
Humor, daß er also auf dem besten Wege war vom
"Dichter" zum "Literaten" -- alles das läßt sich
schon aus seinen letzten Geschichten herauslesen. Ob
dieser Fortschritt zum Soliden und Professionellen viel mehr
gewesen wäre als ein Einfallen in den Schritt der
Hauptkolonne, als einleuchtender Konformismus?
Mein Borchert damals und der eigentliche, so schien mir auch
beim Wiederlesen, das war der Autor der Geschichten in "Die
Hundeblume" und von "Draußen vor der Tür", ein
Rattenfänger und Rhapsode, dem der volle Griff in die
Tasten wichtiger war als Geschmackskontrolle und deutliche
Artikulation, der einen ganzen Weltkrieg entschlossen
verinnerlicht hat, ein Zweihundert-Seiten-Autor mit Resonanz
bis heute, sicher kein Primus in irgendeiner Klasse der
Literaturgeschichte, aber geschlagen und begabt mit einem
untrüglichen Instinkt für die Situation, für
die er und in der er schrieb.
Ein Rattenfänger, denn jetzt läßt sich als
Ideologie greifen, was damals, wie Musik nur eingeatmet
wurde: Borchert hat seiner Generation, allen im
faschistischen Krieg Verbrauchten und Enttäuschten eine
wunderbare, wenn auch uneingelöste Entlastung
angeboten. Heimkehrer Beckmann bring in der
Schlüsselszene von "Draußen vor der Tür"
seinen Oberst "die Verantwortung zurück", ein
Ödipus hinter der Gasmaskenbrille, der den Vater
durchaus erkennt, aber nicht erschlägt, dem die
Verantwortung auch keineswegs abgenommen wird. Im
Stück wie in den Geschichten, unermüdlich hat
Borchert diese Entnazifizierung nur kraft gerechten
Gefühls betrieben, den Schuldberg
zurückgewälzt auf die ältere Generation, die
für ihn nur doppelt schuldig wird dadurch, daß
sie Schuld und Verantwortung durchaus nicht tragen
will. An den Unschuldigen frißt das Gewissen,
die Schuldigen sind gewissenlos -- so streng, doch
bloß moralisch, so schwarz wie unerforschliches
Schicksal liest sich diese erste, diese erfolgreichste
"Bewältigung der Vergangenheit".
Sie wäre uns so glatt nicht eingegangen, hätte sie
nicht wie im Handstreich etwas durchaus Richtiges tief
empfunden vereinfacht. Denn die anderen, die
Gewissenlosen, das waren in Borcherts Szenerien immer die
Säulen der bürgerlichen Welt, die Popanze eines
nationalistischen Militärs, einer leer gewordenen
Kultur, des rücksichtslosen Profitgeistes. Doch
zu diesen anderen gehört auch "Frau Kramer, die weiter
nichts ist als Frau Kramer, und das ist gerade zu
furchtbar". In solchen Tiraden schlägt das
Situationspathos der verlorenen Generation schon um in alte,
wehe Romantik, in die Aggression des Vaganten gegen die
Philister. So wird hier laufend Not umgesetzt in
Tugend, gesellschaftliche Heimatlosigkeit geschönt zu
Freiheit, ein Zeitkonflikt hochgesungen zu einer
Konfrontation mit fast Ewigkeitsanspruch.
Freigesprochen und schuldig geblieben, im Recht, doch auf
den Hund gekommen, materiell wie philosophisch -- so
einladend, offen für jedes Selbstmitleid, hat uns
Borchert damals ausgedrückt. Denn egozentrisch
bleiben alle seine Klagen. Nur die verlorenen Jahre
und Bräute, das verpfuschte Gottvertrauen, das
zerbombte Hamburg und von allem im Krieg Angerichteten immer
nur dessen Abbild im eigenen, wehleidigen Gewissen, das sind
die Motive dieser Jeremiade, nie also die Opfer, die dieses
deutsche Jahrzehnt sonst noch gekostet hat, keine Spur auch
vom 'SS-Staat', den Kogon damals zum erstenmal
dokumentierte.
So läßt sich aus sicherer Entfernung die
Gegenrechnung aufstellen, und zweifellos, gerade was
Borcherts scheinbare Schonungslosigkeit unterschlug, half
ihr mit zum Erfolg. Doch ebenso sicher, daß ihm
gerade deshalb zugehört wurde, weil er eben nichts nur
Gewußtes, Vermitteltes, Dokumentiertes, nichts nur vom
Hörensagen niederschrieb, sondern immer nur die eigene,
unvermittelte Erfahrung. Noch seine heute
durchschaubare Ideologie, noch seine steilsten und krummsten
Metaphern sind mindestens eines: authentisch. Auch
falsche Gefühle, auch wohltuend falsches
Bewußtsein hat er durchaus richtig aufgeschrieben.
Überflüssig also alles geschmackssichere
Naserümpfen beim Wiederlesen dieser mit starkem Pedal
geschriebenen Texte. Gut, hier ist der Ausdruckswille
so unermeßlich wie die Information dünn.
Ein Gestus von "es-verschlägt-mir-den-Atem" gerät
dauernd in Widerspruch zum breit und wuchtig dahinrollenden
Wortschwall. Herbsüß und füllig wird
von einem angeblich verbitterten, ausgemergelten Leben
erzählt. Eine verbale Sinnlichkeit greift um sich
und findet doch keine genauen Gegenstände, findet zu
keinem Realismus.
Noch diese Widersprüche sind keineswegs
lächerlich, sondern authentisch. Denn Borchert
redet eben nicht nur von und zu einer bestimmten Generation
in einer bestimmten historischen Lage, er ist auch und immer
noch der Barde einer allgemeinen Stimmung, des
pubertären Widerwillens gegen alles sogenannte
Erwachsenwerden, Weltekel und Welthunger, beides hat er
übertrieben groß geschrieben. Alles, das
große Ganze, vom lieben Gott bis zu Frau Kramer, hat
er in den Anklagezustand versetzt, um es mit dem
nächsten Atemzug wieder als das Ganze, "dieses
herrliche süße sinnlose tolle
unverständliche Leben" zu umarmen. Hinter aller
Frontkämpfer-, Heimkehrerbitternis verbirgt sich
deutlich genug Erfahrungslosigkeit, und das nicht nur, wenn
von Mädchen und Frauen kaum mehr zum Vorschein kommt
als etwas Haut und Lippenstift und Seide, lauter warme
Papierworte. Hier schreibt ein Hungerkünstler,
Entbehrung war seine Muse. Hunger bläht auf,
Hunger macht Phantasie, Hunger macht auch
geschmacklos. Ein Hungerkünstler, oder etwas
genauer: ein positiver Nihilist, fast das volkstümliche
Pendant zu Gottfried Benn.
Er schreibt zum Beispiel: "Einsam hockten die Männer
über den Ungewißheiten der kommenden Nacht, und
die Stadt summte groß und voller
Verführung. Die Stadt wollte Gerd oder seidene
Strümpfe." Lesen sich solche Sätze nicht wie
in Literatur zurückübersetzter Freddy Quinn, und
wäre das ein Verdikt? Borcherts frühe Texte
haben tatsächlich den Instinkt von Schlagern, sie haben
den Leuten die Bedürfnisse, die Tag- und Alpträume
aus dem Kopf gelesen. Sie haven breite und intensive
Kommunikation mit einem Publikum erreicht, das sich seitdem
mehr und mehr im Stich gelassen fühlt von jener
konsequent modernen Literatur, in der in letzter Konsequenz
die Maxime gilt: "Statt falscher Kommunkiation -- gar keine"
(Karl Markus Michel).
Volkstümlichkeit -- das Wort, ich weiß, ist fast
unaussprechlich geworden -- doch in ihr hat Borchert nur in
Böll noch einen Nachfolger gefunden. Sein Pathos
des historischen und metaphysischen Beleidigtseins ist
sicher nicht wiederholbar. Ohne seine wichtigste
Qualität aber, ohne dieses genaus
Situationsbewußtsein, ohne das Vermögen und den
Mut, nur der dröhnende Bauchredner dessen zu sein, was
Unzählige unartikuliert bewegt, ist eine Zukunft der
Literatur, wenn sie eine haben soll, kaum noch
vorzustellen. Genau, was heute so vergangen scheint an
diesen Texten, könnte das sein, was erst wieder
einzuholen wäre.
(Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.)